Wie Aldi-Süd sich Pestizide im Essen schön rechnete

Vor kurzem bekam ich die Frage zugesandt, warum ich auf meiner Webseite schreibe, dass die Pestizidbelastung zunimmt, wo doch Studien im Auftrag von Aldi-Süd eine „ganz andere Sprache sprächen“.

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass die „Studien“ im Auftrag von Aldi-Süd niemand ernst nimmt, weil

  1. die Motivation solcher Unternehmen offensichtlich ist (siehe auch meinen Artikel “Das ALDI Pestizidverbot – gut für Umwelt- und Verbraucherschutz?”) und
  2. schon auf den zweiten Blick klar wird, dass der von Aldi-Süd angewandte Bewertungsansatz völlig unbrauchbar ist (Link zur Studie).

Denn Aldi-Süd bewertet die Pestizidbelastung in Lebensmitteln anhand des Verhältnisses der Rückstände zur gesetzlich festgelegten Höchstmenge. Das ist absurd.

Gesetzliche Höchstmengen ändern sich ständig (hier eine aktuelle Übersicht und ein etwas älterer Artikel von mir). Niemand sollte empirische Daten anhand wechselnder Maßstäbe/Referenzen vergleichen. Aldi-Süd macht aber genau das. Der gleiche Rückstand von 1 mg/kg wird durch Aldi-Süd anders bewertet, je nachdem, ob die Höchstmenge zum Probenahmedatum 3 mg/kg oder 10 mg/kg ist. Nach Aldi-Süd wäre die „Pestizidbelastung“ einmal 30% und einmal 10%.

Solche Änderungen der Höchstmengen finden tatsächlich statt. Captan gehört zum Beispiel zu den häufigsten Rückständen in deutschen Äpfeln. 2016 wurde die Höchstmenge von 3 mg/kg auf 10 mg/kg angehoben. Umgekehrt gibt es auch unzählige Beispiele. Werden Höchstmengen abgesenkt, steigt laut Aldi-Süd die „Summenbelastung“ auch wenn die realen Rückstände gleich hoch bleiben oder sogar sinken.

Besonders in die Irre geführt wird man von Aldi-Süd in deren Diagramm mit „Belastungstrends“ über die Zeitachse 2007-2017 (siehe Abbildung 1 der Aldi-Süd Studie). Dort sieht man die drastische Absenkung „der Belastung“ im Zeitraum 2006 bis 2009 auf die sich die Anfrage an mich bezieht. Natürlich ist die „Höchstmengen-Belastung“ von 2006/07 auf 2008/09 extrem stark gesunken. Denn im September 2008 wurden die Höchstmengen europaweit harmonisiert (siehe ausführlich Neumeister 2008 ->Zusammenfassung, Langfassung). Aldi-Süd vergleicht also die Belastung im Zeitraum 2006/2007 anhand nationaler[1] Höchstmengen und ab September 2008 anhand von europäischen Höchstmengen.

Das wäre etwa so, als wenn Donald Trump die Umstellung der Temperaturskala in den USA von Fahrenheit auf °Celsius anordnet (32 °Fahrenheit = 0 °C) und daraufhin erklärt, dass es in den USA wesentlich kälter geworden ist.

Dass die Ergebnisse dieses Bewertungsansatzes ohne Aussagekraft sind, dämmert der Autorin sogar. Im Zusammenhang mit der steigenden „Höchstmengen-Belastung“ im Zeitraum 2016-2017 wird festgestellt: „Zeitgleich wurden die zulässigen Rückstandshöchstgehalte für einzelne Wirkstoffe reduziert, was sich (…) auch auf die mittlere Summenauslastung[2] auswirken kann. Beispielsweise wurde im Jahr 2016 die Rückstandshöchstmenge für Chlorpyrifos für verschiedene Artikel deutlich reduziert“ (Mempel H im Auftrag von Aldi-Süd, 2018, Seite 10).

Gerade dieses Zitat zeigt deutlich, wie abwegig der Bewertungsansatz von Aldi-Süd ist: Sinkende gesetzliche Höchstmengen führen bei Aldi-Süd zu höherer „Summenauslastung“.

Bezüglich der „Höchstmengen-Auslastung“ ist das faktisch zwar richtig. Es ist aber eine völlig wertlose und irreführende Aussage. Denn eine steigende Summenbelastung á la Aldi-Süd kann gegensätzliche Ursachen haben: steigende reale Belastung oder Absenkung der Höchstmenge. In manchen Fällen passiert beides: in meinem letzten Artikel zeige ich sehr deutlich, dass die Absenkung der Höchstmengen für Chlorpyrifos das Risiko für den/die VerbraucherIn durch Insektizide gesenkt hat.

Eine steigende Summenbelastung, wie Aldi-Süd sie berechnet kann aber ebenso von einer steigenden Belastung stammen.

Für den/die VerbraucherIn ist relevant, ob das Risikopotenzial sinkt oder steigt. Dafür ist die Bewertung mittels Höchstmengen-Auslastung ungeeignet. Sicher interessiert es auch, wie sich der Anteil pestizidfreier Ware im konventionellen Anbau entwickelt.

Meine Aussage, dass die Belastung steigt, bezog sich auf die Untersuchungen des CVUA Stuttgart. Deren Daten zeigen, dass es kaum noch konventionelle Ware ohne Pestizidnachweise gibt und deren Anteil sinkt. Die aktualisierten Grafiken dazu (2001-2018) finden sich auf der Facebookseite zum Blog.

Das Risiko für den/die VerbraucherIn durch Pestizide im Essen ist in Europa in den letzten 15 Jahren sicher gesunken. Viele Wirkstoffe mit besonders bedenklichen Eigenschaften sind vom Markt verschwunden bzw. wurden deren Höchstmengen stark abgesenkt. Das ist ausschließlich ein Verdienst der intensiven Arbeit der Zivilgesellschaft. Auf diesen Errungenschaften darf man sich aber nicht ausruhen.

Bestimmten Interessengruppen sind die strikteren EU Standards im Weg. Im Rahmen internationaler Verhandlungen (siehe z.B. TTIP) und Revisionen von Gesetzen (aktuelles REFIT) gibt es immer eine starke Lobby für die Absenkung der erkämpften Standards. Diese Lobbygruppen sind dauerhaft in Berlin und Brüssel aktiv.

Erst kürzlich erfand die EFSA eine neue Möglichkeit Höchstmengen zu erlauben, die aus ihrer bisherigen Sicht ein Risiko für VerbraucherInnen darstellen. Dazu kommt noch ein Artikel.

[1]Es gab auch schon zu diesem Zeitpunkt nationale und europäische Höchstmengen – die nationalen waren teilweise wesentlich strikter (siehe Neumeister 2008).

[2] Anmerkung des Autors:Summe der „Höchstmengen-Belastung“